Salzburger Ehrenstier 2021
Die Übergabe des Preises - samt anlassgemässer Extra-Darbietung - findet am 25. Juni 2021 im Tollhaus Karlsruhe statt und wird live übertragen im ORF und WDR, danach später von SRF1 ("Spasspartout").
Kulturpreis St. Gallen
Laudation von Peter Stamm im Anhang (scroll down!)
Schweizer Kleinkunstpreis
„Goldener Thunfisch“ (2007)
Begründung: Joachim Rittmeyer entspricht nicht dem bild des typischen Kabarettisten. Ihm sind keine Sprach-Schnellfeuer zu entlocken; im Gegenteil, beharrlich verweigern sich seine Bühnenfiguren einer eindeutigen Klassifikation und tun sich eher umständlich mit den Alltags-Misslichkeiten. Allesamt sind sie Pseudonyme, Alter Egos Rittmeyers, die an seinen Soloabenden in verschiedenen Rollen in Dialog miteinander treten. Die verqueren Denkmanöver, mit denen ein Schwerenöter wie sein Hanspeter Brauchle durch die Untiefen der Realität mäandert und in scheinbar unsinniuge Betrachtungen abstürzt, fordern dem Publikum einiges an geduld ab. Doch wird es reichlich belohnt durch scharfsinnige, poetische Pointen und schlafwandlerisch sichere Symptombenennungen einer absurden Normalität.
Der „Tagesanzeiger“ fasste die Kunst Rittmeyers als die „hohe Kunst des Tiefstapelns“ zusammen.
1974 trat der gebürtige St. Galler erstmals mit einem Soloabend auf. Inzwischen tourt er mit seinem 16. Soloprogramm durch die Schweiz. Immer hat er sich in seiner Karriere auch mit andern Kabarettisten, Schauspielern und Musikern zusammengetan, hat Neues ausprobiert und sein eigenes Bühnenpersonal verändert und stetig verfeinert. Entstanden ist ein komischer Mikrokosmos, ein Schwindel erregendes Abbild der Welt.
Laudatio von Daniele Muscionico:
(...) Es ist nicht nur das Was, das Joachim Rittmeyers Figuren so wahr machtg. Es ist mindestens so sehr das Wie. Rittmeyer präsentiert uns seine Alltagshelden in einer Kunstform des poetischen Herunterspielens und Niedrighängens, der planvollen Verweigerung von Sinnzusammenhängen als benutzerfreundliche Anleitung für Nutzlosigkeit.
Rittmeyer ist Schauspieler und Kabarettist in einem und der Fall seiner nutzlosen Nutzniesser ist weit tragischer als jeder Sturz eines Königs bei Shakespeare. Denken Sie an Theo Metzler, den Zeremonienmeister sinnfreier, kryptowissenschaftlicher Rituale im Allgemeinen und Abdankungen im Speziellen. Oder an Brauchle, Seismograph für die Abgründe des Alltäglichen. Brauchle leiht sein Ohr dem Geflecht des Korbstuhls nach Inbesitznahme durch Menschen. Oder er misst mit der Stoppuhr die Wiederauferstehung einer tödlich zerknüllten Plastiktüte. Metzler und Brauchle sind Rittmeyers Durchhalteparolen und Aufforderung zum Widerstand im Wissen darum, dass Widerstand unsere eigene Macht gegen die Macht des Faktischen ist. Metzler und Brauchle wissen, dass Menschlichkeit zwar wie ein Missverständnis aussieht – aber unsere letzte Chance ist, Mensch zu sein. -Für deinen kunstvollen Menschendienst ist der Schweizer KleinKunstPreis 2007 nur ein kleiner Dank und eine überfällige Anerkennung.
Cornichon (1998)
(Schweizerischer Cabaret-Preis)
Begründung: Meisterhaft versteht er es dann, selbst in verschiedene Rollen zu schlüpfen -
das ist eines der Qualitätsmerkmale von Joachim Rittmeyer, der damit auch immer wieder
sein schauspielerisches Können unter Beweis stellt.
Als Kabarettist ist sich Joachim Rittmeyer stets treu geblieben. Billige Lacher und Schenkelklopferhumor interessieren ihn nicht.In seinen satirischen Geschichten reiht er nicht Pointe an Pointe,
sondern er entwickelt die Handlung dermassen fantasievoll, dass der Zuschauer sein Interesse auf das Wes richten kann: Auf die irritzigen Figuren des Alltags, auf ihre möglichen wie auch unmöglichen Aktionen wie Reaktionen auf den Menschen unserer Zeit. Für sein bemerkenswerten Schffen als seriöser skurriler Kabarettist,
für sein grosses schauspielerisches Talent, Figuren auf den Grund zu gehen, erhält Joachim Rittmeyer den Cornichon-Preis 1998.
Salzburger Stier (1982)
Begründung: Als entschiedener Gegner des ’Unkrautvertilgungskabaretts’ hat er eine kabarettistisch-theatralische Programmform enwickelt. Unter gekonntem Einsatz seines schauspielerischen und musikalischen Repertoires schafft er Bilder und Stimmungen, die sehr nachhaltig und von ’homöopathischer Kraft’ sind, um es mit den Worten eines begeisterten Kritikers zu sagen. Joachim Rittmeyer bringt Gestalten auf die Bühne, die in ihrer Gratwanderung zwischen Harmlosigkeit und Abgründigkeit umwerfend komisch sind und den Zustand unserer absurd-heilen Zeit mit geradezu erschreckender Deutlichkeit auf den Punkt bringen
Laudatio von Peter Stamm
Wer einen Preis gewinnt freut sich. Er lacht, reisst die Arme hoch, ballt eine Faust oder macht ein Victory-Zeichen. Je nach Alter und Geschlecht können diese Gesten mit wildem Gehüpfe oder mit Tränen ergänzt werden. Das lernen schon die kleinen Kinder in der Schule der Nation, dem Fernsehen.
Wer einen Preis gewinnt freut sich, er schämt sich. Er fürchtet sich vor dem Neid der anderen, hadert damit, ein Ziel erreicht zu haben und ein neues suchen zu müssen. Er hat Selbstzweifel, ist peinlich berührt davon, als Preisträger in die Stadt seiner Kindheit zurückzukehren. Er rechnet nach, was er mit dem Preisgeld anstellen könnte, sorgt sich über die Steuerprogression. Er zerbricht sich den Kopf darüber, wen er um eine Laudatio bitten könnte. Er empfindet ein unerklärliches Gefühl der Vergeblichkeit. Das lernen wir nicht im Fernsehen, das lehrt uns das Leben.
Ich weiss nicht, was im Kopf von Joachim Rittmeyer vorging, als er erfuhr, dass er den St. Galler Kulturpreis bekommen würde, aber ich bin sicher, dass er keine Luftsprünge machte, sondern vieles gleichzeitig empfand, so wie wir immer vieles gleichzeitig empfinden. Würden wir ihn fragen, würde er es uns vielleicht vorspielen, so wie er es auch im Gespräch gerne tut, wenn er plötzlich in eine seiner vielen Rollen schlüpft. Er sei eben eher ein „Indirekterer“ sagte er einmal in einem Radiointerview, einer, der sich gern „über die Banden“ äussere. Als er 2007 den Kleinkunstpreis erhielt, liess er die Ehre von vier seiner Figuren kommentieren. (CD 1)
Hanspeter Brauchle meinte: „Wichtig isch, das s’Läbe normal witergoot (...)“. Jovan Nabo betonte gewohnt bescheiden, es sei vor allem das Verdienst der anderen, nur um in brüchigem Schweizerdeutsch hinzuzufügen „Aber: Super. Wa wotsch no meh.“ Der Unternehmer Lanzi meinte: „I däre Prisklass wird das vom Radar nöd erfasst. Allerhöchschtens vo de Schtürbehörde.“ Und Theo Metzler schliesslich – wie immer lässig unzuverlässig – behauptete: „Ich ha no nie en Pris gha. Aber eimol hani ä Priska gha. Isch au guet gsi.“
Joachim Rittmeyer ist der Meister der Ambivalenz. Er arbeitet im Mikrobereich, seziert und analysiert unsere Gefühle und spiegelt sie uns auf der Bühne zurück. Und dann sitzen wir im Theater und hören einem Vater zu, der im Café sitzt und seinem Kind auf dem Spielplatz zuruft: „Det chunsch nöd ufe.“ Oder Brauchle, der sagt: „Mängmol chunt eifach alles zame“ Oder Metzler, der sagt „Und dänn natürlich landschaftlich ...“ Und empfinden bei diesen banalsten Sätzen ein unerklärliches Gefühl der Wahrhaftigkeit.
Die St. Galler sind keine Meister der Selbstdarstellung. Ich habe mein Leben lang hart an der Grenze zu St. Gallen gewohnt und viel Zeit in der Olma-Stadt verbracht, aber ich weiss von den unbekannten Nachbarn nicht viel mehr, als dass sie ihre Bratwurst ohne Senf essen.
Die Verweigerung des scharfen Gewürzes ist der St. Galler Antiklimax, den ich auch in den Liedern des Wartenümmerlisammlers Manuel Stahlberger oder im Werk des Wahl-St. Gallers Roman Signer so sehr schätze. Joachim Rittmeyer ist der Meister des Antiklimax, einer der seine Bratwurst ohne Senf serviert. Allenfalls ein Senfkorn wolle dieser sein, schrieb er 2010 in einem Text über seine Figur Theo Metzler: „ein Senf- oder Sandkorn im Getriebe des Menschenlebens, das dazu neigt, die Reibungslosigkeit über alles zu stellen.“
Dass Joachim Rittmeyers Programme alles andere sind als dramatisch, verraten schon die Titel: „Stören – Friede“,„Der Untertainer“, „Verdrängt und zugenäht“ oder „Abendfrieden Spezial“. Über einen seiner ersten Soloabenden schrieb die Neue Zürcher Zeitung 1985: „Auf weiten Strecken wird die Pointenlosigkeit auf die Spitze getrieben.“ Und 1989 hiess es in derselben Zeitung, die immer etwas schwer von Begriff war: „auf Tempo und Spannung wartete man vergeblich.“ Was damals negativ gemeint war, ist recht eigentlich das Markenzeichen von Joachim Rittmeyer, an das sich Kritiker und Publikum erst gewöhnen mussten. Er ist kein Karrikaturist, der seinen Gegenstand überzeichnet, kein Satiriker, der ihn seziert, kein Komiker auf der Suche nach Pointen.
Joachim Rittmeyer macht es uns nicht leicht, indem er sich weigert, unsere Erwartungen zu erfüllen. „Abrundungsmanie“ nannte er einmal unser „Bedürfnis, jedes Geschehen dieser Welt abzurunden“, das „den Blick auf die wahre Welt“ verhindere. Den Blick auf unser eigenes Leben, in dem auch wir oft vergeblich auf Tempo und Spannung warten und das an Pointen arm ist. Aber nicht nur das abgerundete, das erlösende Ende fehlt in Joachim Rittmeyer Programmen. Oft verweigert er uns schon den Anfang. So wimmelt es in seinen Programmen von Abwesenden, von zu spät oder gar nicht gekommenen. In „Abendfrieden Spezial“ (1989) fällt die Rede des Bundesrats zur Lage der Nation aus und der Heimleiter muss für die abwesende Regierung einspringen, „Streng öffentlich“ (1976) beginnt eineinhalb Stunden vor einer Lifesendung und endet, bevor diese anfängt, in „Der Untertainer“ ist der Kabarettist verstorben und nur noch ab Tonband zu hören, und auch „Die Lesung“ (1996) findet nie statt. In „Verlustig“ verschwindet Hanspeter Brauchle. In „Lockstoff“ (2011) wird der Beginn der Veranstaltung verzögert, weil sich ein unbekanntes Tier im Saal befindet. In der ersten einer Serie von Kindersendungen, die von 1978 bis 1986 unter dem Titel „Gspass mit em Joachim Rittmeyer“ im Radio lief, versuchte er die Geschichte des Gartenschlauchvertreters Hügi zu erzählen, nur um dabei dauernd unterbrochen zu werden von Telefonanrufen, dem Express-Pöstler, vom Hund der raus wollte, vom Lärm des Verkehrs und einer übenden Klavierspielerin. Die Geschichte, wen wundert es, wurde nie zu Ende erzählt.
Ein roter Faden im Werk Joachim Rittmeyers sind Lektionen, Instruktionen, Übungen. Es wäre zu kurz gegriffen, dies mit seinem gelernten Beruf des Lehrers erklären zu wollen, obwohl er diesen durchaus gerne ausgeübt hat. In der sehr kurzen Zeit als Lehrer habe er „beglückende Momente“ erlebt in denen er „die Schulstube als eine Art Brennglas der Welt empfand“. Aber er habe die Schule schon damals nur als Zwischenlandung empfunden auf dem Weg zum grösseren Freiraum der Bühne. Immerhin begann seine Kabarettistenlaufbahn schon im Alter von zwölf Jahren, als er in der Radiosendung „Blick ins Land“ in lupenreinem St. Galler Dialekt ein Lied über fehlende Freiräume für Kinder vortrug. So gesehen brachte die Entlassung des Dienstverweigereres aus dem Schuldienst ihn nur auf den richtigen Weg zurück.
Die Lektionen, die Joachim Rittmeyer uns heute erteilt, fänden nicht einmal im harmonisierten Lehrplan 21 ihren Platz. Dabei geht es ihm durchaus um Kompetenzen, wie das heute so schön heisst. Schon sein zweites Programm „Stören – Friede“ beginnt als lockerer Kurs, der uns helfen soll, „das Leben in Zukunft besser zu kontrollieren, besser in den Griff zu bekommen.“ Wir sollen „die Technik der optimalen Lebensbeherrschung“ lernen. Ein andermal werden, Flugpassagiere nach den Ferien wieder auf eine veränderte Heimat eingestimmt oder die Insassen eines Altersheims auf den bevorstehenden Besuchstag. Joachim Rittmeyer spielte einen Fahrprüfungsexperten, einen Psychiater, einen Verkehrsplaner, einen Ausbildner für Manager, er erteilte Lektionen im Befüllen von Geschirrspülmaschinen oder Rucksäcken. Ein Programm hiess schlicht „Orientierungsabend“.
Man könnte meinen Joachim Rittmeyer sei ein unpolitischer Kabarettist. Stellungnahmen zu aktuellen politischen Ereignissen kommen in seinen Soloabenden nur sehr selten und je länger desto weniger vor. Schon nach der Chemiekatastrophe von Schweizerhalle im November 1986 schrieb er in einem Sammelband: „Es wäre absolut lächerlich, diese Katastrophe nun möglichst böse und aggressiv in einem Text oder Lied abzuhandeln, auf Sündenböcke zu zeigen und dann noch zu glauben, damit sei die Sache erledigt.“ Viel eher als das „Unkrautvertilgungskabarett“ liege ihm die Rolle als Seismograph, der das Unglück ahnt, bevor es eingetreten sei. Jahre später erinnerte er sich in einem Radiogespräch, wie ihm das Schwarz-Weiss-Schema des Kabaretts immer weniger behagte und wie er immer stärker das Bedürfnis hatte, differenzierte Figuren zu spielen, Figuren, die er mochte und denen er in ihrer Vielschichtigkeit gerecht werden konnte. Ziel seiner Arbeit sei das „lustvolle Verunsichern“, das seine Programme viel fundamentaler politisch macht als das wohlfeile Ironisieren und Moralisieren, das einen so grossen Teil des politischen Kabaretts ausmacht.
Es geht Joachim Rittmeyer um das Grundsätzliche: das Unbehagen des modernen Menschen in der Zivilisation, seine Vereinsamung, die Instrumentalisierung von Menschen, die Verdrängung von Randgruppen und immer wieder die missglückende Kommunikation. Die Schweizer sind Weltmeister der Nichtkommunikation beziehungsweise der nichtssagenden Kommunikation, der Kunst zu reden, ohne etwas zu sagen. Schon 1976, in seinem zweiten Programm, prägte Joachim Rittmeyer den Begriff der „Primsätze“ oder auch „Stoppsätze“ und sie lassen ihn bis heute nicht los. Es sind Sätze, „die sich durch nichts, als durch sich selbst teilen lassen.“ Die Monologe des scheuen Hanspeter Brauchle beginnen oft mit wahren Kaskaden solcher Äusserungen . In einem kurzen Auftritt bei Giacobbo/Müller brachte er in der ersten Minute gleich acht davon unter:
(CD 2)
- Mängmol chunt halt alles zäme.
- Ich chönnt jetzt einiges verzelle.
- Nächscht Wuche bessereds dänn wieder.
- Ich weiss wies isch.
- Dä Mäntig isch sowieso am schlimmschte.
- Morn isch dänn scho besser.
- Mängmol muesch eifach dur so Sache dure.
- Gross erwarte tuen ich jo nüt.
Diese Füllsätze verhindern Kommunikation indem sie sie vortäuschen. Sie bieten uns Schutz, aber sie isolieren uns auch und verhindern, dass wir zusammenkommen.
Wenn der Inhalt des Gesprochenen in den Hintergrund tritt, kommt die Musikalität der Sprache umsomehr zum Tragen. Es ist nur konsequent, dass Joachim Rittmeyer sich immer mehr dem Dialekt verschrieben hat, obwohl Metzler und Brauchle – wie er 1992 bei einem Auftritt in Deutschland bewies – auch sehr gut auf Hochdeutsch funktionieren. Virtuos arbeitet Joachim Rittmeyer mit den Klangfarben verschiedener Dialekte, mit Tempowechseln und Pausen. Seine Programme sind hochmusikalisch und wirken richtiggehend komponiert. Statt für das Cello oder das Klavier, den zwei Instrumenten, die er als Kind lernte, begleitet er seine Auftritte seit jeher auf dem Vibraphon. Kennengelernt hat er es mit achtzehn Jahren an einem Konzert von Bobby Hutcherson. Er beschaffte sich ein Instrument und lernte es weitgehend autodidaktisch zu spielen. Auf einer 1987 erschienen Schallplatte seiner Lieder mit dem schönen Titel „Mein Vibe und Gesang“, nennt Joachim Rittmeyer das Vibraphon den „weiblichen Aspekt“ seiner Programme: unaufdringlich-eindringlich, verführerisch, rätselhaft, eher leise. „Plakative Aussagen passen schlecht in die Sphäre des Schwebenden“, schreibt er auf der Plattenhülle. „So ist denn diese Zusammenstellung eher etwas für die Liebhaber des „vegetarischen Kabaretts.““
Solche persönlichen Randbemerkungen und Selbstauskünfte sind bei Joachim Rittmeyer eine Seltenheit. Das Hintergrundbild seiner Homepage ist zwar ein liebevoll gezeichneter Arbeitsraum samt Vogelkäfig und Fernseher, aber unter „Leben und Werk“ findet sich eine Biographie, die kürzer nicht sein könnte. Die ersten dreiundzwanzig Jahre seines Lebens (darunter die neunzehn St. Galler Jahre) finden auf gerade mal zwei Zeilen Platz:
Geb. 16. Mai 1951 in St.Gallen, Kindheit und Jugend in St. Gallen, Primarlehrerpatent, kurze Tätigkeit als Lehrer, zwei Jahre Journalismus.
Joachim Rittmeyer hat zweifellos wie wir alle eine Biographie. Aber was sagt es über ihn aus, dass seine Mutter Pianistin und Klavierlehrerin war, dass er mit drei Jahren seinen Vater verlor, dass er das jüngste von sechs Kindern war? In ihrem schönen Buch über die Schweizer Kabarettszene schreibt Daniele Muscionico, Joachim Rittmeyes Biographie müsste den Titel tragen: „Joachim Rittmeyer gibt es nicht“. Er zeichne sich aus durch „eine jahrelange, planvolle Verweigerung, Antworten zu liefern, wo Fragen doch das Interessantere sind.“ Ein schönes Beispiel dieser Verweigerung ist ein „Indiskretes Interview“, das vor sechzehn Jahren in der Schweizer Illustrierten erschien, und in dem er nur diskrete Antworten gab:
- Mit welcher berühmten Frau oder mit welchem berühmten Mann möchten Sie einmal eine Nacht verbringen?
- Mit einer Frau, die genausowenig wie ich auf diese Frage eingehen würde.
- Haben Sie einen Aids-Test gemacht?
- So etwas fragt man höchstens beim letzten Tanz.
- Hat der Begriff Sünde für Sie eine Bedeutung?
- Nicht im Rahmen dieses Interviews.
- Woran glauben Sie
- An Geheimnisse.
Die „planvolle Verweigerung“ hat nichts mit Verschlossenheit zu tun, viel eher mit Bescheidenheit. Die Eitelkeit, die den Umgang mit Bühnenmenschen oft schwierig macht, scheint Joachim Rittmeyer völlig abzugehen. Statt über sich selbst redet er lieber über seine Projekte. Dazu passt, dass er kein anständiges Archiv seiner vergangen nicht für Geschichtsschreibung. „Irgendwie war ich immer so auf Gegenwärtiges oder Zukünftiges fixiert“, schrieb er mir in einer Mail, „dass ich das Dokumentieren und Archivieren vernachlässigte. Kommt dazu, dass mich die Endgültigkeit von „geronnenen“ Produkten immer etwas befremdete.“
Joachim Rittmeyer ist peinlich darauf bedacht, auch seinen Figuren keine Biographie anzuhängen und ihnen damit ihr Geheimnis zu nehmen. Theo Metzler hat von Schriftsetzer über Wasserpendler und Klavierstimmer bis zu Christbaumverkäufer und Fremdfüller so viele Berufe ausgeübt, dass es ist, als hätt er gar keinen. Von Hanspeter Brauchle wissen wir nicht viel mehr, als dass er besser mit Elektrogeräten als mit Frauen umgehen kann, dass er gerne wandert und einen Göttibuben hat der ihm zu Weihnachten einen selbstgebastelten Trennstab geschenkt hat. Über Hanspeters Herkunft, seinen familiären Hintergrund, seinen Beruf erfahren wir kaum etwas. Vielleicht kennen wir ihn gerade deshalb so gut. Jeder kann sich seinen eigenen Brauchle vorstellen. Meiner kommt aus dem Toggenburg, vielleicht, weil ich selbst zu einem Viertel Toggenburger bin. Als ich Joachim Rittmeyer darauf ansprach, war er höchst erstaunt. Dabei hat ihn selbst einmal ein Kritiker mit dem Toggenburg verglichen: „Sehr speziell und viel zu wenig geschätzt.“
Viel zu wenig aber doch hoch geschätzt, möchte ich hinzufügen. Wenn ich Freunden erzählte, dass ich an dieser Laudatio arbeite, hörte ich immer wieder Sätze wie: „Ich bin ein totaler Fan.“, „Er ist der absolut Beste.“, „Er ist genial.“ Sätze die ich vorbehaltlos unterschreiben würde. Mein zweiundzwanzigjähriger Neffe meinte über Joachim Rittmeyers neueste und zugleich jüngste Figur Paddy, es sei das erste Mal, dass er eine erwachsene Person einen Jugendlichen habe spielen sehen, ohne dass es peinlich gewesen wäre.
Meine eigene Geschichte mit Joachim begann vor ungefähr zwanzig Jahren. Wir begegneten uns im Dunstkreis des Nebelspalters. Erst ging es um eine Initiative für einen Hofnarren im Bundeshaus, eine Rolle, die zu besetzen er – wie er damals schrieb – sich durchaus vorstellen könnte. Unser nächstes gemeinsames Projekt war eine Fernsehsendung, die wir zusammen mit Iwan Raschle entwickelten, den „Roten Bock“, angelehnt an den „Blauen Bock“, die legendäre Unterhaltungssendung des hessischen Rundfunks mit Hans Schenk. Die Idee war ganz simpel. Joachim sollte den schmierigen Moderator einer Satiresendung spielen, aber der wahre Ort der Handlung sollte der Regieraum sein, der Backstagebereich. Wir führten lange Diskussionen und immer ging es mehr um Formen als um Inhalte. Es ging uns nicht darum, das Publikum mit Pointen zu füttern sondern es zu verunsichern, eine Methode, die Joachim in seinen Programmen zur Perfektion getrieben hat. Die Sendung wurde nie produziert.
Kurz vor der Jahrtausendwende erfand und organisierte Joachim das vom Migros Kulturprozent finanzierte Projekt „Gegenschirm“. Ich war als einer von knapp zwanzig Darstellern mit dabei. Die Idee von „Gegenschirm“, war, wie es in der Projektbeschreibung heisst: „unserer ausgeklügelten Alltagsmaschinerie einfach einmal ein Schnippchen zu schlagen, ihr zu zeigen, dass all ihre Rädchen durchaus ein Zäckchen mehr haben als nötig wäre, um zu funktionieren.“ Das Mittel waren kurze Szenen, die Joachim geschrieben hatte und die wir unter seiner Regie im öffentlichen Raum spielten, ohne Ankündigung und ohne Auflösung. Die Zuschauer erfuhren nie, dass sie einer Inszenierung beigewohnt hatten. So konnte es einem in den ersten Monaten des neuen Jahrtausends passieren, dass man einer Touristengruppe begegnete, die von ihrem Führer haarsträubend falsche Informationen über die Sehenswürdigkeiten der Stadt erhielt. Oder man konnte beobachten, wie kurz hintereinander zwei Trampassagieren Milch aus der Einkaufstasche rann. Oder wie jemand in der Post Kleingeld fallen liess und sich ein anderer auf eine der Münzen stellte und sich standhaft weigerte, seinen Fuss zu heben. Auf einer Homepage, die noch heute im Netz zu finden ist, wurden alle Bewohner der Schweiz aufgefordert, sich selbst solche Aktionen auszudenken und sie durchzuführen.
Der Erfinder solcher subversiven Interventionen ist wohl Theo Metzler. In einem Text für eine Aufsatzsammlung über das gesellschaftliche Engagement in der zweiten Lebenshälfte wünschte sich Joachim Rittmeyer vor vier Jahren seinen Lebensabend wie Metzler zu verbringen, der vor Supermärkten angeleinte Hunde befreit, „damit sie ihre Treueentscheidung gegenüber dem Menschen nochmals in Freiheit überdenken können“, auf Plakaten Werbebotschaften mit Filzstift verändert, in der Post Wartenummern pflückt, um sie Kunden seiner Sympathie zu schenken. „Aber was heisst schon Lebensabend“, endet der Text, „ich bin noch keine 60 im Fall!“
Inzwischen ist Joachim Rittmeyer sechzig geworden, sogar ein bisschen älter. Aber es bleibt zu Hoffen, dass der St. Galler Kulturpreis ihn dazu ermuntern mag, seinen Lebensabend noch etwas hinauszuschieben und noch lange die Bühnen landauf und landab zu verunsichern. Wir brauchen ihn und seine Lektionen in der Kunst der Lebensbeherrschung, in der Kunst, uns nicht vom Leben beherrschen zu lassen.
Das letzte Wort soll Joachim Rittmeyer haben oder besser Theo Metzler. Er lehrt uns – eine letzte Lektion – dass es gut sei, mit einer offenen Frage zu enden. Wie Herr Züllig, mit dem er im Altersheim „Gnad Gottes“ wohnte und dessen letzte Worte waren: „Was chunt ächt ufem Dütsch zwo?“
Lieber Joachim, ich gratuliere dir ganz herzlich zum St. Galler Kulturpreis. Liebe St. Gallerinnen und St. Galler, ich beglückwünsche Sie zu ihrem Preisträger.